Mittelsteighütte

Urwaldgebiet Mittelsteighütte, Nationalpark Bayerischer Wald, Deutschland

Das Waldgebiet „Mittelsteighütte“ im Bayerischen Wald gehört vermutlich in Deutschland zum Inbegriff eines „Urwaldes“, trägt es den Beinamen „Urwaldgebiet“ doch schon fest im Titel und ist unter diesem Namen in Deutschland bekannt.1 Tatsächlich lässt sich am Beispiel der „Mittelsteighütte“ zeigen, wie schwierig und vieldeutig der Begriff des Urwaldes sein kann.

Das ca. 38 Hektar große Gebiet befindet sich am Süd-Westhang des Großen Falkensteins auf einer Höhe zwischen 705 und 800 Metern. Die Mittelsteighütte ist damit der einzige der „Urwaldreste“ im Bayerischen Wald in den unteren Hanglagen und wurde bereits 1761 aus militärischen Gründen (Sicherung der Bayerischen Grenze) als Bannwald ausgewiesen und damit geschützt. 1914 wurde das Gebiet zuerst zum „Schonbezirk“ erklärt und dann 1939 als Naturschutzgebiet ausgewiesen, bevor es schließlich 1997 Teil des Nationalparks Bayerischer Wald wurde. Die Jahresdurchschnittstemperatur ist 5,5 – 6,5 °C und der jährliche Niederschlag liegt bei 1.100 bis 1.300 mm. Der Wald besteht vor allem aus Buchen (Fagus sylvatica), Weißtannen (Abies alba) und Fichten (Picea abies), vereinzelt untermischt mit Bergahorn (Acer pseudoplatanus). Ganz vereinzelt gibt es auch einige Bergulmen (Ulmus glabra), Sommer-Linden (Tilia platyphyllos) und Eiben (Taxus baccata).2

Die Mittelsteighütte befindet sich unmittelbar am Rand der Ortschaft Zwieslerwaldhaus und ist von zwei Wanderwegen erschlossen. Da sie zum Kerngebiet des Nationalparks gehört, dürfen die Wege nicht verlassen werden. Im nordöstlichen Teil befindet sich eine etwa 400 m² große Waldwiese, Reste einer früheren Ziegenweide. Zahlreiche mächtige Bäume über 50 Meter Höhe und Totholzmengen von über 150 m³ pro Hektar (Bild unten) verleihen dem Gebiet in der Tat einen sehr urwaldartigen Eindruck.

In solchen starken Totholzstämmen von Weißtanne entwickeln sich die Larven des Urwaldreliktkäfers Rindenschröter (Ceruchus chrysomelinus)

Allerdings ist die Mittelsteighütte bei näherem Hinsehen keinesfalls ein „unberührter“ Wald, auch während der langen Schutzhistorie seit 1761 hat es menschliche Eingriffe gegeben: In der Zeit bis 1914 wurden zunächst nur wenige einzelne Bäume („Dürrholz“) für die Glasindustrie genutzt.2 Zwischen 1930 und 1935 entnahm man nach Windwürfen liegende Bäume im Umfang von 3.985 m³. Auf die Fläche von 38 Hektar gerechnet entspricht diese Holzmenge einer vollständigen Durchforstung. Das damals zuständige Forstamt Zwiesel-West nahm wie folgt Stellung dazu: „Der Gedanke, dieses ganze wertvolle Holz verfaulen zu lassen, ist doch utopisch.“3 Die Situation ähnelt der im Urwald Rothwald (Österreich).

In der Mittelsteighütte wurden außerdem bis etwa 2010 noch alte und morsche Bäume entlang des Weges aus Gründen der Verkehrssicherheit gefällt. Die Stämme wurden zwar nicht entfernt, aber Stümpfe und Schnittflächen sind bis heute zu sehen. Dazu kommen indirekte menschliche Einflüsse auf den Wald wie erhöhter Wildverbiss: Im gesamten Falkenstein-Gebiet des Nationalparks ist der Verbiss an Weißtanne sehr hoch und in der Mittelsteighütte ist nur wenig Verjüngung von Weißtanne zu finden. Mittlerweile prägt eine dichte Schicht aus zwischenständigen Rotbuchen das Gebiet, welches sich ähnlich wie der Sophienurwald (Žofínský-prales) immer mehr zu einem reinen Buchenwald entwickelt.

Ist das „Urwaldgebiet Mittelsteighütte“ bei so vielen menschlichen Einflüssen überhaupt noch so etwas wie ein Urwald? Diese Frage haben wir bei der Erstellung dieser Webseite kritisch diskutiert. Tatsache ist: Vom Menschen unberührt ist dieser Wald nicht, die anderen „Urwaldreste“ im Bayerischen Wald wie das Höllbachgspreng oder die Rachelseewand zeigen weniger menschliche Einflüsse. Dennoch findet man hier gleich eine ganze Reihe von Arten, die unter Wissenschaftlern als Indikatoren für urwaldartige Bedingungen gelten und die im restlichen Deutschland extrem selten oder sogar völlig ausgestorben sind, hier nur einige Beispiele:

Der Duftende Feuerschwamm (Phellinus pouzarii) ist ein Pilz, der auf altem Totholz von Weiß- und Nordmanntanne (Abies nordmanniana) wächst, weltweit sind weniger als zehn Fundorte bekannt. Diese liegen in unberührten und großen Urwaldresten wie dem Biogradska-Gora-Nationalpark (Montenegro) oder dem Urwald Rothwald. In Deutschland ist das Gebiet Mittelsteighütte der einzige Fundort diese Urwaldart.4

Der Rindenschröter, eine Rote-Liste-1-Art (= vom Aussterben bedroht), gehört zu den so genannten Urwaldrelikt-Käfern.5 Er ist zwar auch aus einigen wenigen anderen Wäldern in Deutschland bekannt, in der Mittelsteighütte hat er allerdings eine besonders große Population und seinen Verbreitungsschwerpunkt im gesamten Bayerischen Wald.5

Weitere Beispiele für Arten, die nur unter urwaldartigen Bedingungen vorkommen und in der Mittelsteighütte gefunden wurden, sind die Totholzpilze Zitronengelbe Tramete (Antrodiella citrinella)4 und Nördlicher Stachelseitling (Climacodon septentrionalis) sowie die Rindenwanze Aradus betulae.6

Dabei konnten sich die Zitronengelbe Tramete und der Rindenschröter nach etwa 2010 aus der Mittelsteighütte wieder im weiteren Nationalparkgebiet ausbreiten. Das zeigt, dass solche alten Reservate mehr sind als ein „Waldmuseum“: Sie können ein Rückzugsgebiet für seltene Urwaldarten sein und für diese Arten als Spenderfläche dienen, wenn bestimmte Lebensräume (z.B. Totholz) in der Umgebung wieder häufiger vorhanden sind.7

Ist die Mittelsteighütte ein Urwald? Diese Frage muss wohl vorerst offenbleiben: Ein Urwald im Sinne eines unberührten Waldes ist das Gebiet nicht und man sieht zumindest entlang der Wege auch heute noch Spuren von menschlichen Eingriffen. Allerdings hat die Mittelsteighütte trotz der Eingriffe eine deutschlandweite Bedeutung für mehrere Arten, die nur unter urwaldähnlichen Bedingungen leben können.

TM

Referenzen:

  1. Siehe z.B. https://de.wikipedia.org/wiki/Urwaldgebiet_Mittelsteighütte
  2. Löfflmann, Hartwig 1988: Urwaldbestand Mittelsteighütte im Forstamt Zwiesel; Waldwachstumskundliche Beobachtungsfläche “ZWI 137”; Ertragskundliche Zustandsaufnahme und Strukturanalyse (Diplomarbeit an der LMU München)
  3. Englmaier, Karl-Heinz 2017: Geschichte des Nationalparks Bayerischer Wald und seiner Nationalparkregion (Nationalparkverwaltung Bayerischer Wald)
  4. Moning, Christoph et al. 2009: Ökologische Schlüsselwerte in Bergmischwäldern als Grundlage für eine nachhaltige Forstwirtschaft (Wissenschaftliche Reihe Nationalpark Bayerischer Wald – Heft 19)
  5. Müller, Jörg et al 2005: Urwaldrelikt-Arten – Xylobionte Käfer als Indikatoren für Strukturqualität und Habitattradition (waldoekologie online Heft 2)
  6. Gossner et al 2017: Wanzenfunde anlässlich des 42. Treffens der „Arbeitsgruppe Mitteleuropäischer Heteropterologen“ im Zwieseler Winkel, Nationalpark Bayerischer Wald, Beiträge zur bayerischen Entomofaunistik 17:19–42, Bamberg (2017), ISSN 1430-015X
  7. Müller, Jörg & Bässler, Claus 2009: Importance of natural disturbance for recovery of the rare polypore Antrodiella citrinella Niemelä & Ryvarden (Fungal Biology 114)